Ausgabe 57
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Die totale Vernetzung

Mobilkommunikation und Social Networking fusionieren

Text: Philipp Laage     Bild: concealer/photocase.com  

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Presse

Jeder kennt die grüne Blume. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre fing sie an, sich in das Leben der Jugendlichen zu schleichen. Langsam, unbewusst und schließlich immer selbstverständlicher verwies sie Tätigkeiten wie Essen und Schlafen auf die Plätze. Positioniert am unteren Rand des Monitors signalisiert sie als Symbol des ICQ-Messangers oder einem seiner Verwandten Zeit ihres Bestehens die kommunikative Bereitschaft des Nutzers.

Wir drehen die Uhr auf 2005: Ehssan Dariani und Dennis Bemman adaptieren das Facebook-Prinzip und gründen StudiVZ. Ein beispielloser Erfolg in Deutschland: Allein im September 2008 konnte das Social Network laut IVW mehr als 158 Millionen Einzelbesuche für sich verbuchen. Bis auf wenige digitale Eremiten ist quasi jeder, der heute mit dem Internet aufwächst, in einen virtuellen sozialen Raum integriert. Dieser Raum ist bisher nur in einer Hinsicht abgeschlossen: Der Teilnehmer benötigt einen lokal gebundenen Internetzugang. Doch auch diese letzte Hürde der totalen Kommunikation ist im Begriff, endgültig zu fallen.

Aka-aki heißt ein neues mobiles Social-Networking-Programm und bringt die Online-Gemeinschaft „raus auf die Straße“ – besser gesagt, auf das Handy. Es erkennt per Bluetooth andere User in der Umgebung und speichert ihr Profil direkt auf dem Handy. Das Ganze ist so etwas wie ein portables, intelligentes StudiVZ für die Hosentasche. Abends schaut man dann nach, wem man tagsüber über den Weg gelaufen ist. Auch sonst bietet das Programm ähnliche Funktionen wie die altgedienten Social Networks, ob zu Hause am Rechner oder auf dem Mobiltelefon. Wo Internet-Flatrates für das Handy immer günstiger, die Endgeräte immer benutzerfreundlicher und die Netzwerke immer größer werden, ist die Verschmelzung von mobiler Kommunikation und digitaler Sozialwelt nur die einzig logische Konsequenz. Die Zeiten der lokalen Bindung sind vorbei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das „Aka-aki-Prinzip“ durchsetzt und auch die großen Plattformen mit speziellen Features auf die neue Netzmobilität reagieren.
 
Das Szenario ist ausbaufähig: Mobile Instant-Messanger schicken in Zukunft Nachrichten überall und ohne Zeitverlust, Gefühlszustände manifestieren sich via Voice-Stream-Statusmeldung und 10-Megapixel-Schnappschuss direkt im virtuellen sozialen Raum, die Freundesliste verteilt sich dank GPS-Ortung als eine Art Social Navigation System auf die digitale Landkarte des Handys, getwittert wird nach dem Aufstehen vor dem Zähneputzen bis zum Einschlafen nach dem Sex. Orte, Wege, Menschen, Kontakte, Eindrücke, Stimmungen und Emotionen – das alles erreicht jeden jederzeit in einer unglaublich schnellen Taktung. Alles, was passiert, ist unmittelbar im Anschluss an das Geschehen selbst ein weiteres Puzzleteil des digitalen Profils. Die Technik wird diesen Schritt gehen, der Mensch auch? 
 
Diese Entwicklung kann man durchaus infrage stellen. Doch die Beobachtung der Gegenwart erlaubt den Blick in die Zukunft. Digitale Profile werden schon heute täglich aktualisiert, Away-Mitteilungen wechseln dreimal am Tag, je nach Stimmungslage, und Tagesrückblicke, Beziehungsdramen und Alkoholabstürze werden für jeden sichtbar auf der Pinnwand diskutiert. Warum sollte sich dieser Aktionismus nicht beschleunigen, wenn die technische Möglichkeit besteht, das virtuelle Selbstbild in jeder Minute mit neuen Einzelteilen zu modellieren? Ortsunabhängig, versteht sich. Trendforscher nennen dieses Phänomen „life chaching“. Immer mehr Teile des Lebens werden digitalisiert und in Bits und Bytes umgewandelt – so als sei das Leben eine komplexe, aber eigentlich simple Abfolge von Nullen und Einsen.
 
Der Telekommunikationsmarkt reagiert: Die Konvergenz aus Mobilkommunikation und Social Networking setzt sich durch. Der durchschlagende Erfolg des iPhone katapultierte Apple innerhalb eines Jahres fast an die Spitze dieses Marktsegments. Nokia entwickelt seine Lifeblog-Software ständig weiter. Damit lässt sich der Alltag anhand aller digitalen Daten rekonstruieren und zu einem umfassenden Tagebuch zusammen führen. Zukünftig landen alle Fragmente des sozialen Lebens als eine riesige Sammlung auf dem Rechner - stets bereit, der Welt präsentiert zu werden. Das könnte dann so aussehen: Ich blicke im Lifeblog eines Menschen zum Beispiel genau ein Jahr zurück, sehe seine Tagesroute und die versendete Nachrichten, die geschossenen Fotos sind dank Google-Earth-GPS-Erkennung gleich mit der richtigen Ortsmarke verbunden und auch die Menschen werden automatisch markiert, verlinkt und sortiert. Ich kann mir ausgeben lassen, mit wem jemand wie oft unterwegs war. Bilder, Videos und Textfragmente – im Rückblick ist das mein Leben. Life 3.0, quasi: Nichts vergessen in einer schnellen Welt, ein Stückchen Ewigkeit im Netz, die unauslöschliche Erinnerung an das, was ich getan habe.
 
Feststeht, dass uns diese Digitalisierung zunehmend zu dem macht, der wir augenscheinlich sind. Schon der Soziologe Georg Herbert Mead war sich sicher, dass sich Identität maßgeblich dadurch bildet, dass der Mensch die Wahrnehmung anderer von sich selbst antizipiert und in sein Handeln einbezieht. Man entwickelt nur ein Bewusstsein von sich selbst, wenn man sein Handeln mit den Erwartungen anderer in Beziehung setzt. Der inflationäre Gebrauch der Social Networks beweist, dass genau das immer intensiver passiert - beobachten und selbst wahrgenommen werden. Bereits heute fällt der „
digitale Selbstmord“ zunehmend schwerer, weil der soziale Druck, nicht mehr Teil der Gemeinschaft zu sein, wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der jungen Menschen hängt. Das Internet-Profil folgt den Menschen als virtueller Schatten Schritt für Schritt – und wird ihn in mobilen sozialen Netzwerken wohl einholen.
 
Dabei ist der soziale Druck nicht eindeutig auszumachen. Im Internet lassen sich die sozialen Rollen nicht trennen – zumal die Entwicklung in Richtung Meta-Software geht, die mehrere Social Networks integriert. Die Erwartungen sind differenzierter denn je; gleichzeitig wächst der Identitätsdruck innerhalb der pluralistischen Kommunikationsgesellschaften immer mehr. Feste Lebensentwürfe verschwinden, Wandlungsfähigkeit ist gefragt – „man lernt nie aus“. Genau das macht viele so unsicher und erschwert die Entwicklung einer eigenen Identität. Während der oft rezitierte „Lebensweg“ also immer diffuser wird, multiplizieren sich die Anforderungen an die persönlichen Darstellung. Während die Frage ‚wer bin ich’ immer schwieriger zu beantworten ist, wird das ‚zeig wer du bist’ in der vernetzten Sozialwelt technisch immer leichter und gesellschaftlich immer bedeutender. Hier liegt der große Konflikt der Web-2.0-Generation.
 
Wie wird die Generation „X-Punkt-Null“ damit zurechtkommen, wenn sie sich in einem Zustand der totalen Kommunikation befindet – und damit auch der totalen Öffentlichkeit? Die reine Darstellung wird jedenfalls nicht mehr ausreichen. „Früher ging es um Aufmerksamkeit, heute um Anerkennung“, sagt
Peter Wippermann, einer der führenden Trendforscher in Deutschland. Seit 1992 leitet er das Trendbüro Hamburg, ein Beratungsunternehmen für gesellschaftlichen Wandel. Seine These: Der junge Mensch der Zukunft hat gar keine andere Wahl, als seine Identität ständig neu zu modellieren: „Das ist keine Frage des Wollens mehr, sondern eine Verpflichtung. Wer sich nicht selbst definiert, der wird definiert.“ Ist das befremdlich? Für die ältere Generation vielleicht, erklärt Wippermann. Wer mit interaktiven Medien aufwächst, empfinde sie aber als natürliche Umwelt: „Das hängt von der Mediensozialisation ab.“ Die Unter-20-Jährigen seien wesentlich unkritischer. Die Frage bleibt, wie die Menschen in Zukunft mit dieser Selbstverständlichkeit umgehen. Laut der JIM-Studie 2008 des Medienpädagogischen Forschungsinstituts Südwest besuchen rund Dreiviertel der 12 bis 19 Jährigen Online-Communities. Wer einmal drin ist, bleibt dabei, sagt der Kommunikationsexperte aus Hamburg.
 
Sich selbst zu formen, sei eine der wesentlichen Aufgaben der kommenden Online-Generation. „Wer nicht kommuniziert, ist draußen,“ sagt Wippermann. Es entsteht der Eindruck, schon heute haben die Menschen Angst, in den Urlaub zu fahren, da sie ihre virtuelle Profilpflege nicht mehr betreiben können. Wer wird zukünftig noch Fotos schießen, wenn er sie nicht mehr hochladen kann, um sie der Welt zu zeigen? Wer wird überhaupt noch in den Urlaub fahren, wenn die digitale Nabelschnur des eigenen Lebens abreißt? Steckt dahinter die Angst, dass ohne einen selbst alles weiterläuft wie bisher, dass man abgelöst wird vom nächsten schwarz-weiß in Szene gesetzten Profilbild? In dieser Hinsicht schließt die Mobilkommunikation eine Lücke, die der „Verpflichtung“ zur ständigen Aktualisierung der eigenen Identität entgegenkommt. Bedeutet das alles aber überhaupt noch Erfüllung, wenn es nicht um seiner selbst Willen geschieht? „Identität statt Erlebnis“ – zu diesem Ergebnis kam auch Wippermann beim diesjährigen Deutschen Trendtag in Berlin. Während es in den Neunzigern quasi den Höhepunkt der Erlebniseuphorie gab, suchten die Menschen heute immer nach einem Mehrwert ihrer Erlebnisse, nach einem identitätsstiftenden Nutzen. Nicht das ‚wie’ unserer Aktivitäten ist wichtig, sondern das ‚warum’. Der Druck auf die Netzwerk-Gesellschaft wird noch zunehmen. „Google arbeitet daran, soziale Beziehungen in Social Networks zu ranken. Das hat eine unglaubliche Bedeutung.“ Der Mensch als Summe seiner sozialen Beziehungen? „Im Endeffekt sind es mathematische Modelle, nach denen sich Unternehmen und andere Bezugsgruppen ein Bild machen. Dieses Bild muss man beeinflussen.“ Das bedeutet aber auch: Meinen Wert im Social Network muss ich immer wieder unter Beweis stellen. Es ist eine Rückkopplungsschleife, die mich unter einen enormen Druck setzt. Keiner weiß so recht, ob die Schnelligkeit der Medien auf den Menschen übergesprungen ist, oder ob das neue Kommunikationspotenzial nur einem Bedürfnis entgegen kommt, das schon immer in uns pochte. Das Ergebnis ist das gleiche. Individualität und Einzigartigkeit werden zukünftig in immer schnellerer Taktung unter Beweis gestellt – dank Mobilkommunikation am besten zwischen erfolgreichem Bewerbungsgespräch und dem nächsten Konzertbesuch. Anerkennung für die eigene Person als der bedeutendste Wert der Zukunft, ihre Generierung als zentrale Lebensaufgabe – aus Angst bedeutungslos zu werden. Denn eines wird sich nicht verändern, sagt Peter Wippermann: „Der Mensch möchte immer anders sein als die anderen, aber nie allein.“

Der Autor




Philipp Laage, Jahrgang 1987, studiert Kommunikations-wissenschaft und BWL an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster und arbeitet als freier Journalist für den dpa-Themendienst in Hamburg.







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